Mitte Oktober führte das Forbes Magazine ein Interview mit dem inzwischen 84-jährigen US-Investor und Portfoliomanager des Third Avenue Value Fund Marty Whitman und diskutierte mit ihm über die Chancen innerhalb des aktuellen Marktumfeldes.
Valueinvesting.de, 26. Oktober 2008
Ursprünglich wurde Marty Whitman für seine Investments in Wertpapiere von notleidenden Unternehmen bekannt. Investoren in notleidende Aktiva werden auch als „Geier“ bezeichnet, da ihre „Beute“ aus maroden Unternehmen besteht, deren Beteiligungs- und Schuldkapital sie für einen Bruchteil des tatsächliches Wertes aufkaufen. Mit dieser Vorgehensweise versuchen Investoren in notleidende Wertpapiere bei einer Restrukturierung der Unternehmen die Kontrolle zu gewinnen und hoffen auf außerordentliche Gewinne, indem der tatsächliche Wert der erworbenen Aktiva entweder wiederhergestellt wird oder die Vermögenswerte veräußert werden.
Heutzutage konzentriert sich Whitman aber eher auf sein Flaggschiff, den Third Avenue Value Fund, der in der Regel nur einen kleinen Teil seiner Anlagemittel in Wertpapiere von notleidenden Unternehmen investiert. In Anbetracht des derzeitigen Börsencrashs vertritt Marty Whitman die Auffassung, dass momentan auch die Aktien der solidesten Unternehmen zu Ausverkaufspreisen gehandelt werden. Obwohl der von ihm gemanagte und 7 Mrd. $ schwere Third Avenue Value Fund aufgrund des Zusammenbruchs des Immobilien- und Kreditmarktes seit Jahresanfang 40% (Mitte Oktober) an Wert verloren hat, ist Whitman derzeit voller Begeisterung für Aktien.
Marty Whitman sieht in der aktuellen Marktsituation eine Chance, die es nur einmal im Leben gibt. Diese ist nach seiner Einschätzung sogar noch besser, als in den 1970er Jahren. Nach seiner Aussage werden bestimmte Aktien geradezu verschenkt. Aus diesem Grund ist für Whitman die Zeit gekommen, sich „in den Aktienmarkt zu stürzen“.
Dabei beschränkt er sich jedoch auf einige Stammaktien von Unternehmen, die mit großen Rabatten auf ihren Substanzwert gehandelt werden. Am wichtigsten ist für ihn aber, dass er sich nicht in Unternehmen engagiert, die in irgendeiner Form Zugang zu den Kapitalmärkten benötigen. Die Unternehmen, in die Marty Whitman derzeit investiert, müssen „super-kreditwürdig“ sein. Zudem sucht Whitman nach Unternehmen mit langfristig vielversprechenden Geschäftsmodellen, die ebenfalls mit großen Rabatten auf ihren wahren Wert gehandelt werden und die in der Lage sind, ihre Netto-Vermögenswerte in den kommenden fünf Jahren prozentual zweistellig zu steigern.
Wert alleine ist nach Aussage von Marty Whitman nicht mehr ausreichend. Benötigt wird in dieser Zeit Wert plus Kreditwürdigkeit. Denn niemand kann vorhersagen, wie lange sich der Aktienmarkt chaotisch verhalten wird. Für Whitman sind die momentanen Gelegenheiten vergleichbar mit 1932, da die Aktien der besten Unternehmen weltweit mit einem Abschlag von 60% auf ihren wahren Wert oder dem 8fachen ihrer Jahresgewinne gehandelt werden.
Ähnlich wie für Walter Schloss, ist die Bilanz eines Unternehmens für Marty Whitman heutzutage mehr den je von größter Bedeutung. So investiert Whitman nicht in Unternehmen, die nicht optimal finanziert sind. Anleger, die die Möglichkeit besitzen, sich in solchen Unternehmen zu engagieren, sind nach Aussage Whitmans Bargeld-Käufer und langfristige Buy-and-Hold Investoren. Für Käufer, die mit Fremdkapital arbeiten, oder an einen bestimmten Verkaufszeitpunkt gebunden sind, wird es nach Whitmans Einschätzung sehr schwierig werden, Vorteile aus den sich momentan bietenden Chancen zu ziehen. Für die erstgenannte Anlegergruppe ist die augenblickliche Zeit nach seiner Einschätzung aber einfach unglaublich.
Dennoch betrachtet Marty Whitman sein derzeitiges Vorgehen nicht als klassischen Graham/Dodd Ansatz, sondern als eine Art aktualisierte Version der Graham & Dodd Theorie, die nach Schnäppchen – den sogenannten net-net Aktien – suchte. Mit „net-net“ bezeichnete Benjamin Graham Unternehmen, deren Aktien für weniger als ihr Anteil am Umlaufvermögen abzüglich aller Verbindlichkeiten gehandelt werden. Whitmans Ansatz unterscheidet sich dahingehend, dass er nur investiert, wenn die Unternehmen über eine tadellose Finanzierung verfügen. Ein weiterer Unterschied ist, dass sich Graham & Dodd beim Konzept der net-net Aktien nur auf das Umlaufvermögen konzentrierten, während Whitman heutzutage auf qualitativ hochwertige Aktiva achtet, unabhängig davon, an welcher Stelle der Bilanz sie ausgewiesen werden.
Marty Whitman hält die Theorie von Graham & Dodd sogar für falsch, da das Umlaufvermögen auch den Warenbestand eines Unternehmens beinhaltet und dieser nach Whitmans Einschätzung in manchen Fällen sogar zu den schlimmsten Vermögenswerten gehört, die ein Investor besitzen kann. Der Grund hierfür ist, dass Warenbestände im Allgemeinen von Alterung und Preisnachlässen betroffen sind.
Da Marty Whitman zu den wenigen Menschen gehört, die bereits den Bärenmarkt der 1970er Jahre durchlebt haben, erscheint seine Einschätzung der heutigen Situation im Vergleich zu damals insbesondere für jüngere Anleger interessant und aufschlußreich. In diesem Zusammenhang erklärt Whitman, dass schwierige Zeiten grundsätzlich sehr viel dramatischer wahrgenommen werden, während man sie durchlebt. Auch heute hält er diese Aussage für zutreffend. Nach seiner Einschätzung ist die aktuelle Krise schlimmer, als die in 1974. Whitman glaubte damals, dass die Situation nicht mehr schlechter werden könne. Heute denkt er das gleiche.